Bruchstellen

Mit Jugoslawien tat ich mich als Volksschülerin schwer. Es fielen mir verschiedenste Varianten ein, wie ich dieses komplizierte Wort schreiben konnte. Als ich mir die Buchstabenkombination als Teenager endlich eingeprägt hatte, zerfiel das ehemals kommunistische Land. Nach den Balkankriegen blieben 6 oder – je nach Ansicht – 7 Staaten (Kosovo) übrig, die ich wahrscheinlich nicht alle auf Anhieb auf der Landkarte einzeichnen könnte. Und obwohl ich den Krieg medial wahrgenommen habe, und etliche WeggefährtInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien hatte, haben mir erste zwei Romane die Konsequenzen des blutigen Staatenzerfalls für meine Altersgenossen nahegebracht.

Ein Land und ein Familie zerfällt

In Sandra Gugićs Roman „Zorn und Stille“ ist die künstlerische Fotografin Billy Bana auf dem Weg von Budapest nach Belgrad, um ihren Vater zu beerdigen. Aufgewachsen ist sie als Biljana Banadinović im Wien. Ihre Eltern waren jugoslawische Gastarbeiter in Österreich und holten sie im Alter von zwei Jahren von den Großeltern aus Serbien in eine Substandardwohnung der Wiener Vorstadt. Die Familie bemüht sich um keinen Preis aufzufallen, um zu den braven Migranten zu gehören. Auch Billy ist ein stilles, angepasstes Kind, das keine Schwierigkeiten machen will. Ihr Interesse am Fotografieren wird durch die Leica, die ihr ihr Vater schenkt, geweckt. Jugoslawienkriegsflüchtlinge bringen den Krieg mit nach Österreich. Ein unbekannter Anrufer will, dass sich die Familie deklariert, ob sie Serben oder Kroaten seien.

Abwenden

Als Teenager wendetet Billy sich zornig von den Eltern ab, deren Leben ihr unerträglich gewöhnlich und stumpf erscheint. Sie läuft mit 17 Jahren von zuhause weg. Leidtragender ist ihr jüngerer Bruder Jonas Neven, mit dem sie eine innige Beziehung verbindet. Eine fixe Station ist Berlin, wo sie meist kurz bei ihrer Freundin und Geliebten Ira Goldfarb Ruhe findet, bevor sie aus einem inneren Drang heraus wieder los muss. Sie zieht rastlos von einem kreativen Ort zum anderen, um zu fotografieren. Sie motiviert auch ihren Bruder aus der engen Migrantenwelt hinauszutreten. Er entscheidet sich das Herkunftsland seiner Eltern zu bereisen.

Die Elternperspektive

Der zweiten Teil wird aus der Sicht von Billys Mutter Azra erzählt. Wir erfahren über ihre harte Kindheit und Jugend und wie es ihr ergangen ist, in einem fremden Land. Sie will das Beste für ihre Kinder. Doch verliert ihren Einfluss auf die rebellische Billy und auch um die berufliche Zukunft von Jonas Neven macht sie sich Sorgen. Im dritten Teil spricht der Vater Sima zur Leserin, über seine Sehnsucht nach einem besseren Leben, der Lust zu reisen und zu fotografieren. Dieser Aufbruchsstimmung ist später der einschränkende Familienalltag in einem fremden Land gewichen. Im vierten und letzten Teil schließt Billys Perspektive die Erzählung ab.

Zorn und Stille

Der titelgebende Zorn ist in jedem Kapitel spürbar. Billy ist wütend, wurzellos und suchend. Ihre Triebkraft ist eine Sehnsucht nach Freiheit und zugleich auch nach Sicherheit, nach einem Ankerpunkt. Sie hat ihr Zuhause verloren und noch nicht wieder Ruhe gefunden. Ihr Herkunftsland und ihre Familie ist zerfallen. Nichts gibt ihr Halt. Die Wut der Protagonistin liegt manchmal schwer auf der Leserin.

Nach Freiheit sehnten sich schon ihre Eltern, sie wurden aber als Migranten in eine demütige Anpassungshaltung gedrängt. Das zu sehen, macht die Kinder wütend und ratlos.

Die titelgebende Stille kann das Nicht-miteinander-Kommunizieren der Familienmitglieder oder auch das angepasste Verhalten der Zuwanderer bezeichnen.

Das Buch ist atmosphärisch gut gelungen, es bietet sehr schöne, treffende Beschreibungen und Reflexionen.

Herkunft

Als weiterführende Lektüre kann ich noch „Herkunft“ von Saša Stanišićs empfehlen. Das ist der deutschsprachige Roman der Stunde zur post-jugoslawischen Familie. Nachdem er völlig zu recht 2019 den Deutschen Buchpreis erhalten hat und dadurch schon viel mediale Aufmerksamkeit erhalten hat, verliere ich hier nur wenig Wort über diese Leseempfehlung.

Saša Stanišićs Großmutter ist verstorben und veranlasst ihn, einen bekannten deutschen Schriftsteller nach seiner Herkunft zu fragen. Der Roman startet mit einem Ausflug von Großmutter und Enkel in ein Bergdorf in Bosnien Herzogowina, aus dem Stanišićs Großvater stammte. Fast jeder Grabstein des Friedhofs trägt den Namen Stanišićs. Der Weg des Autors führte dann aber nach Heidelberg, wo eine Aral-Tankstelle zum Zentrum seines Aufwachsens wurde, seine Eltern zogen weiter in die USA. Das Buch ist ein Herantasten an die Thematik der Heimat. Stanišićs probiert unterschiedliche Textsorten aus, um sich klarer zu werden. (Am Ende gibt es gar noch einen netten Mitmachroman, der die Handlungsstränge noch einmal zusammenfasst). Dabei beweist er sein virtuoses schriftstellerisches Können, das mir schon bei seinem Roman „Vor dem Fest“ sehr positiv aufgefallen ist.

Die Stimmung der beiden Bücher ist grundverschieden, das zerfallene Jugoslawien eint sie. Bei Gugić finden wir eine Schwere, einen gehaltvollen Verdauungsprozess, bei Stanišić finden wir ein leichtfüßiges, humorvolles Abtasten seiner Herkunft. Beides sind handwerklich extrem gut gemachte Erzählungen, die mich begeistert haben.


  • Sandra Gugić

  • „Zorn und Stille“ ISBN: 978-3-455-00976-7

  • Hoffmann und Campe 2020 Pappband mit SU

  • Seiten: 240 Erscheinungsdatum: 05.08.2020

  • 24,00 (D)/ 24,70 (A) / 32,50 (CH)
  • Saša Stanišićs

  • „Herkunft“ Taschenbuch

  • € 12,00 [D] inkl. MwSt; € 12,40 [A] | CHF 17,90 empf. VK-Preis

  • Originalverlag: Luchterhand
  • Taschenbuch, Klappenbroschur, 368 Seiten, 12,5 x 18,7 cm
  • ISBN: 978-3-442-71970-9
  • Erschienen am 14. September 2020